Am Trauma wachsen

11.12.2016 08:48

Hab einen Artikel in DER ZEIT über Posttraumatisches Wachstum entdeckt: 

Hier auch der Link zum originalen Artikel:  www.zeit.de/2015/36/psychologie-trauma-krieg-therapie/seite-2

 

Am Trauma wachsen

Schreckliche Erlebnisse wie Krieg oder Krankheit können Menschen innerlich zerstören – viele jedoch entwickeln eine neue Stärke.

Als Rhonda Cornum zu sich kam, war es stockfinster und still. Dann sah sie das Feuer. Kommandos aus ihrem Überlebenstraining ratterten durch ihren Kopf. Sie zwängte sich aus dem Wrack des Hubschraubers, nur weg von den schwelenden Trümmern und den zerfetzten Körpern ihrer fünf Kameraden.

24 Jahre ist das her. Der Hubschrauber der damals 36-jährigen Armeechirurgin war über dem Irak abgeschossen worden. Cornum wurde schwer verletzt, ihre beiden Arme waren gebrochen, sie war hilflos. Irakische Soldaten nahmen sie gefangen, drohten, sie zu töten, und missbrauchten sie sexuell. Nach einer Woche wurde sie befreit.

 

Armeepsychologen, Reporter und Freunde forschten sie später aus. Wie schwer waren ihre seelischen Verwundungen? Würde sie das Trauma überwinden? Cornum verblüffte sie alle: "Ich bin eine bessere Ärztin, eine bessere Kommandeurin, ein besserer Mensch geworden." Sie, die vorher noch nie auf Hilfe angewiesen war, könne nun ihre bettlägerigen Patienten besser verstehen. Sie schätze Freundschaften mehr. "All diese Dinge sind mir viel kostbarer geworden." Die Erwartung anderer, dass sie zwangsläufig auf Dauer geschädigt sein müsse, fand Cornum irritierend: "Jeder hat von posttraumatischen Belastungsstörungen gehört – aber keiner von posttraumatischem Wachstum!"

Psychisches Wachstum nach einem Trauma? Das klingt paradox. Denn die quälenden Folgen von schrecklichen Erfahrungen sind gut belegt: Angstzustände, Schlaflosigkeit, Depressionen. Doch Psychologen sammeln mehr und mehr Indizien dafür, dass ein dramatisches Erlebnis auch einen Neuanfang bergen kann. "Hier offenbart sich die Doppelnatur des Traumas", sagt der Therapeut Peter Levine. "Zum einen birgt es eine zerstörerische Kraft, zum anderen die Macht zu Transformation und Wiederauferstehung." Dafür prägten die Psychologen Richard Tedeschi und Lawrence Calhoun von der University of North Carolina den Begriff vom posttraumatischen Wachstum. Doch sie bekommen Gegenwind: Kritiker halten positive Effekte für schlicht eingebildet.

 

Richard Tedeschi ist ein aufmerksamer Zuhörer mit einer vertrauenerweckenden, ruhigen Stimme. Er leitet seit 25 Jahren eine Gruppe für trauernde Eltern, berät Menschen, die ihren Partner verloren haben, Schwerverletzte, Krebspatienten und Veteranen. Immer wieder überraschten ihn Patienten damit, sie hätten nach einem Unglück festgestellt: "Mein Leben hat sich zum Besseren verändert. Ich glaube nicht, dass das so gekommen wäre, wenn mir das nicht passiert wäre. Alles zusammengenommen, hat es sich für mich zum Positiven gewendet."

Menschen berichteten von Zugewinnen in fünf Bereichen, sagt Tedeschi: Sie seien sich ihrer eigenen Stärke bewusst geworden, hätten tiefere Beziehungen zu anderen Menschen entwickelt, neue Lebensperspektiven entdeckt, wüssten das Leben stärker zu schätzen oder hätten eine intensivere Spiritualität entwickelt. Er zitiert Studien mit Überlebenden von Katastrophen, die von Tsunamis, Kidnappings und Vergewaltigungen bis hin zu Kriegen und Folter reichen: 30 bis 70, in manchen Fällen sogar bis zu 90 Prozent der Betroffenen berichten, dass sie mindestens einen Aspekt von posttraumatischem Wachstum erfahren hätten.

Ein Klient Tedeschis hat eine Arterienerweitung (Aneurysma) im Gehirn, die jederzeit platzen kann. Er musste fast alles aufgeben: seine Arbeit, seine Hobbys, seinen geliebten Sport. Zuerst war er deprimiert, später aber wurde ihm klar, dass er durch den Verlust dieser Aktivitäten andere Freuden gewann. Weil er Stress nicht gewachsen ist, hatte er keine andere Wahl, als mehrere Gänge zurückzuschalten. Er nennt es slow life,ein Leben im ersten Gang. Er habe nun eine bessere Beziehung zu seinen Kindern, weil er sich mehr Zeit für sie nehme. "Mein Leben ist besser als je zuvor", sagt er. "Ich kann jede Sekunde sterben, aber wenn ich das Aneurysma nicht hätte, wäre ich nicht in der Lage, das Leben auf diese Weise wahrzunehmen."

Es mehren sich Hinweise, dass Menschen wie Rhonda Cornum und die Patienten Tedeschis nicht die Ausnahme sind, sondern die Regel. Nur 6 bis 18 Prozent der Überlebenden von Verletzungen, Unfällen oder Kriegen entwickeln eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS), sagt der Psychologe George Bonanno von der Columbia University. "PTBS verdient große Aufmerksamkeit. Aber die überwiegende Mehrheit derer, die lebensgefährlichen Ereignissen ausgesetzt waren, entwickeln diese Störung nicht. Das findet bisher nicht genügend Beachtung."

 

Wenn Psychologen Verlust, Trauer oder Trauma studieren, dann eher bei jenen Patienten, die am stärksten leiden. Die meisten Menschen jedoch bewältigen selbst katastrophale Ereignisse erstaunlich gut. So sagt etwa die junge Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai, die beinahe von Extremisten getötet worden wäre, durch den Angriff seien in ihr "Stärke, Kraft und Mut geboren" worden. Oder der kanadische Physiker Alain Beauregard, bei dem Blasenkrebs im Endstadium festgestellt worden war und der diese Diagnose zum Anlass nahm, sein Leben umzukrempeln. Früher ein Workaholic, versöhnte er sich nach dem Schock mit seiner von ihm getrennt lebenden Frau und seinen Kindern. Heute nennt er den Krebs gar das "beste Geschenk meines Lebens".

Beauregards Reaktion ist extrem. Und Tedeschi sagt, es müsse auch klar sein, dass nicht jeder an einem Trauma wachse. Posttraumatisches Wachstum bedeute auch nicht, dass es dem Betroffenen rundum gut gehe. "Nach einem Trauma wird den Menschen die Vergänglichkeit des Daseins bewusster. Das verstört manche, während es anderen hilft, neue Prioritäten zu setzen", sagt er. "Das ist das Paradox des Wachstums: Wir werden verletzlicher, aber stärker." So ist posttraumatisches Wachstum auch nicht das Gegenteil einer posttraumatischen Belastungsstörung. Vielmehr ist die Belastung für manche der Treibstoff für emotionales Wachstum.

 

Das Konzept des posttraumatischen Wachstums ist heikel. Es kann Druck auf Menschen ausüben, die mit ihrem Schicksal hadern. Kaum etwas nervt Betroffene mehr als wohlmeinende Sprüche wie "Wer weiß, wozu es gut ist?". Das Konzept ist auch deshalb nicht unbedenklich, weil das sehr reale Leiden von Gewaltopfern, Kriegsveteranen oder Holocaust-Überlebenden lange kleingeredet und als Einbildung abgetan wurde. Im Ersten Weltkrieg lachten Ärzte über das sogenannte "Kriegszittern", folterten die "Feiglinge" mit Elektroschocks und schickten sie gleich wieder an die Front. Viele Traumatisierte wurden und werden missverstanden und misshandelt, sogar durch Unverständnis aufs Neue traumatisiert.

Dass Traumaopfer ihrer Verwundung auch Positives abringen können, darf erst recht keine Entschuldigung für die Täter sein. Psychotherapeutin Crystal Green hat in den zehn Jahren, in denen sie als stellvertretende Direktorin bei der Folteropfer-Hilfsorganisation Survivors of Torture International tätig war, zwar viel posttraumatische Reifung beobachtet, spricht aber in der Öffentlichkeit bewusst nicht darüber: "Ich will Folterern damit keinen Freibrief ausstellen, nach dem Motto ›Seht, die Opfer haben dadurch sogar etwas dazugewonnen!‹."

 

Es gibt aber auch Kritiker, die das Ausmaß des posttraumatischen Wachstums infrage stellen. Der deutsche Trauma-Psychologe Andreas Maercker spricht vom "Januskopf-Modell". Ein Teil des Wachstums könne zwar durchaus real sein, das habe er unter anderem in Studien mit Brustkrebspatientinnen und Unfallopfern bestätigt – aber ein Teil sei Illusion. Und zwar dann, wenn Menschen sich nur einredeten, es ginge ihnen besser, um ihrem Unglück im Nachhinein Sinn abzugewinnen. Zwar könne sogar solch illusorisches Wachstum bei der Bewältigung helfen, die "Pseudo-Reifung" sei aber kontraproduktiv, wenn sie die Auseinandersetzung mit dem Trauma behindere. "Der Selbsttrost kann dazu führen, dass man es nicht schafft, in die dunkle Hölle des Erlebten zurückzuschauen, sondern sich davonschleicht", sagt Maercker. Auch das kulturelle Umfeld spielt eine Rolle. So berichten amerikanische Trauma-Überlebende häufiger von Wachstum als deutsche – vielleicht weil das Umfeld in den USA eher eine positive Reaktion erwartet.

Das Umfeld könnte andererseits auch eine Chance sein: Richard Tedeschi beruft sich auf Studien, die zeigen, dass Krebspatienten und Opfer von häuslicher Gewalt eher Wachstum erfuhren, wenn sie jemanden kannten, der selbst posttraumatisches Wachstum erlebt hatte, oder wenn sie von Menschen umgeben waren, die sich für die Möglichkeit der Reifung offen zeigten und sie unterstützten. Wenn Ann Masten von der University of Minnesota, eine Koryphäe unter den US-Resilienzexperten, auf fünf Jahrzehnte Forschung zurückblickt, sticht ihr eine Erkenntnis ins Auge: "Mir fällt kein einziger Mensch ein, der sich ganz allein aufgerichtet hat."

Eben deshalb hat die Armeeärztin Rhonda Cornum nach ihrem Hubschrauberabsturz einen umfassenden Kulturwandel beim Militär angestoßen, ein 130-Millionen-Euro-Programm, an dem heute jeder US-Soldat teilnimmt. Die Sache ist dringend: Jeden Tag nehmen sich 22 amerikanische Veteranen das Leben. Bei dem Resilienztraining wird gerade nicht die Rambo-Taktik "Zähne zusammenbeißen und durch!" gelehrt. Weil es gefährlich ist, ausschließlich Stärke zu propagieren.

Gerade bei Menschen, die versuchen, ein Trauma allein zu bewältigen, oder die ihre Ängste hinter einer Fassade verbergen, heilen seelische Wunden häufig langsamer, wie Traumatherapeuten festgestellt haben. Daher lernen die Soldaten nun, über psychische Probleme zu sprechen, sich Ängste einzugestehen und um Hilfe zu bitten. Tedeschi hat die Lektion zum posttraumatischen Wachstum beigesteuert. Nach vier Jahren sind erste Erfolge messbar: Die Soldaten sind optimistischer, sie können Probleme besser bewältigen und sich an neue Situationen besser anpassen; der Drogenmissbrauch ist deutlich zurückgegangen.

Ein deutlicher Rückgang von PTBS hingegen wurde bisher nicht gemessen. Möglicherweise kann man der Störung mit dem Training schlicht nicht vorbeugen. Oder es ist noch zu früh. Kenneth Riddle, Cornums Nachfolger als Direktor des Resilienzprogramms, glaubt, dieses werde erst in zehn Jahren seine ganze Wirkung entfalten.

Oder das Problem liegt ganz woanders. Viele Soldaten sind nach den Anschlägen vom 11. September hochmotiviert in die Armee eingetreten. Etliche Heimkehrer fühlen sich nun belogen und betrogen. Psychologe Tedeschi betont, wie wichtig es für posttraumatisches Wachstum sei, in seinem Leiden einen Sinn zu finden. Zu vielen US-Soldaten gelingt das offenbar nicht.