Heimweh und Luftprobleme

Schon im Erstgespräch erwähnte der Patient, dass ihm die Familie sehr fehlt. Er war jung, rund um die vierzig. Hatte eine Familie gegründet und war stolzer Vater einer kleinen Tochter. Die Lungenembolie auf Grund einer Beinvenenthrombose lag erst knapp ein halbes Jahr zurück und der Patient hatte in der Folge Probleme, wieder in die Gänge zu kommen. Die Lungenembolie sah er als bewältigt an, obwohl er eigestand, dass er manchmal Angst hatte es könnte wieder passieren.

Beinvenenthrombosen sind typisch für längere Bewegungslosigkeit. Die Venen werden nicht von der Muskulatur zusammengedrückt, "massiert", die Venenpumpe steht und so kann es leicht zur Bildung von Klumpen kommen. Löst sich ein Thrombus, so wandert er über die Venen zum Herzen und von dort in die Lunge, wo er stecken bleibt. Nach Infarkt und Schlaganfall ist die Lungenembolie die dritthäufigste Todesursache bei Herz-Kreislauferkrankungen.

Der Patient litt nicht an Bewegungsmangel. Im Gegenteil. Er ist gerne Rad gefahren, gelaufen und hatte auch schon einmal einen Halbmarathon bestritten.

Bei ihm war die Ursache eine genetisch bedingte Neigung zur Bildung von Gerinnsel (Thrombophilie). Die Therapie besteht in der lebenslangen Einnahme von gerinnungshemmenden Medikamenten.

 

In der zweiten Stunde berichtete er, dass er am Wochenende den Aufenthalt in der Klinik fast abgebrochen hätte. Die Familie war zu Besuch. Sie hatten eine gute Zeit, doch beim Abschied, besonders von seiner Tochter, hat es ihm fast das Herz gebrochen. Er war danach so tief traurig, so in Trauer und voller Schmerz, als ob jemand gestorben wäre. Mit einer Runde Laufen und einem Gespräch beim Arzt, der Wochenenddienst hatte, bekam er sich wieder halbwegs in den Griff.

Seine erste Vermutung war, dass er vielleicht den Tod seines Vaters vor vier Jahren noch nicht verarbeitet hatte. Diese Spur war aber nicht ergiebig. Die Tochter und seine Frau sind gut zu Hause angekommen und offensichtlich nicht gestorben. Der einzige in der Runde, der fast gestorben wäre, war er. Diese Einsicht traf ihn wie der Blitz. Wenn er gestorben wäre, dann hätte seine Tochter ohne Vater aufwachsen müssen.

Ich bat ihn nun, diesen Gedanken und den Schmerz in den Fokus zu nehmen, wahrzunehmen, sich selbst zu betrachten und auf den Brustkorb zu klopfen. Der Schmerz trat in dem Prozess schnell zurück und immer deutlicher wurde die Gewissheit: "Ich habe überlebt. Ich habe überlebt! Ich bin nicht gestorben. Ich kann weiter für meine Tochter da sein." Es war noch nicht klar, wo sich der Gedanke zu sterben gebildet hatte und warum er dann so ein Eigenleben entwickelte, aber offensichtlich war es gelungen, ihn zu entschärfen. Als nächstes Thema rückte seine Gesundheit in den Vordergrund und was er alles für sie tun könnte. Er wollte auf jeden Fall wieder mehr Sport machen, sich beim Alkohol beherrschen und vor allem regelmäßige seine Medikamente einnehmen. Ein wichtiger Aspekt war für ihn, dass er ja "seines Glückes Schmied sei" und dass es "immer wieder seine Entscheidung sei". Ich vermutete, er meinte damit den Sport, den Alkohol, die Medikamente und vielleicht noch etwas, was er jetzt nicht benennen wollte. Am Ende der Behandlung stellte sich ein angenehmes Bauchgefühl ein. Er wirkte gelöst und meinte "dass sich jetzt alles richtig anfühlt."

 

In der dritten Stunde berichtete er von seinem Besuch zu Hause. "Es war ein super Tag und ich bin ohne Probleme wieder hergefahren." Die Trennung war weder für ihn noch für seine Tochter ein Thema. Er berichtete mit Freude, wie sie ihm zum Abschied gewinkt hatte, wie selbstsicher sie war und die Trennung in keinster Weise ihre Beziehung beeinträchtigte.

Doch es gab noch ein Problem. Immer wieder hatte er das Gefühl, zu wenig Luft zu bekommen. Nicht wenn er sich körperlich anstrengte, sondern in Ruhe. Die Lungenfunktion war mit hundertsechs Prozent überdurchschnittlich, die Sauerstoffsättigung gemessen im Blut ebenfalls ausgezeichnet. Der Patient war inzwischen auch wieder in der Lage, über sechs Kilometer zu laufen. Das Gefühl des Luftmangels konnte somit keine organische Ursache haben.

Zum ersten Mal hatte er dieses Gefühl bei der Lungenembolie. Er kam von der Arbeit nach Hause und fühlte sich matt, war körperlich nicht belastbar und hatte Rückenschmerzen. "Die Luft fehlte mir." Nach ein bisschen Fernsehen legte er sich nieder in der Hoffnung, dass es morgen wieder besser sein werde. Am Morgen war aber nichts besser. Er musste husten und begann Blut zu spucken. Dann brach sein Kreislauf zusammen und er hatte das Gefühl dass jegliche Lebensgeist aus seinem Körper floss.

In der Notaufnahme des Spitals zitterte er innerlich. Er hatte keine Ahnung, was mit ihm los war. An den besorgten Blicken der Schwestern und der Anweisung liegenzubleiben entnahm er, dass es etwas Ernstes war. Dann bekam er Schüttelfrost und er konnte nur mehr schwer seine Panik beherrschen. Zur Beruhigung begann er leise einen Rosenkranz zu beten. "Ich hatte Angst zu sterben!" Während er davon berichtete spürte auch wieder Luftmangel.

An dieser Stelle begannen wir mit einer Traumabehandlung. Er klopfte auf seine Brust und betrachtete die Erinnerung. Der Satz: "Ich habe überlebt", verschaffte ihm gleich etwas Erleichterung. Und nach und nach stellte sich auch ein angenehmes warmes Gefühl in seinem Bauch ein. Bei einem weiteren Behandlungsdurchgang trat noch einmal kurz das Gefühl zu wenig Luft zu haben auf. Danach spürte er wieder die Wärme im Bauch, die sich dann auf seinen ganzen Körper ausbreitete. Im dritten Durchgang tauchte ein Schreckmoment auf, der im Zusammenhang mit der Diagnosemitteilung stand. Damals sei ihm "das Herz in die Hose gerutscht". Nun nahm er den Schreck in den Fokus, betrachtete ihn und klopfte auf seine Brust und auch der Schreck löste sich und verschwand. Im vierten Durchgang arbeitete er die gesamte Zeit im Spital durch. Unter anderem erinnerte er sich, dass er noch zwei Mal starken Schüttelfrost hatte. Einmal während er Besuch hatte und er unbedingt verbergen wollte, wie schlecht es ihm ging. Am Ende der Behandlung konnte er an all diese Ereignisse denken, ohne dass eine Belastung auftrat. Nun tauchten auch positive Erinnerungen aus der Spitalszeit auf. Er hatte sich dort auch sicher gefühlt und die Ruhe genossen. Atemnot, Zittern, Panik und Schreck waren einem guten Gefühl gewichen.

Beim Abschlusstermin war für ihn nichts mehr offen. Es sind keine Symptome mehr aufgetreten. Wir unterhielten uns über seine Zukunftspläne und seine sportlichen Ziele. Er hat im Bewegungsprogramm des Herz-Kreislaufzentrums seine Freude am Sport und an seinem Körper neu entdeckt. Hier wollte er unbedingt weiter machen. Er sprühte regelrecht vor Tatendrang und er meinte abschließend: "Für mich war die Rehabilitation ein Erfolg auf allen Ebenen."