Höhenangst

Ich öffnete einem Patient rund um die 50, Manager, groß, selbstsicher, die Tür. Vor zwei Jahren hatte er einen Herzinfarkt. Er habe alles gut überstanden, sein Leben neu organisiert, Prioritäten geändert und jetzt passe wieder alles so weit in seinem Leben, nur dass er seither an Höhenangst leide.

Gut, nicht jeder fährt gerne auf den Donauturm, aber wenn man in einem Hochhaus nicht näher als drei Meter an die Außenwand treten kann oder ein Problem damit hat, mit dem Auto über eine Autobahnbrücke zu fahren, dann wird es schon problematisch. So ist er unter anderem mit der ganzen Familie im Urlaub über einen Pass gefahren, nur um nicht die Autobahnbrücke nehmen zu müssen.

Erste Frage: Bestand das Problem schon vor dem Infarkt? Nein, zumindest nicht in dem ausgeprägten Maße.

Höhenangst gehört zu den angeborenen und nicht zu den erworbenen Ängsten. Jeder Mensch hat Höhenangst. Eben angeboren. Einen Teil dieser Angst kann man wegtrainieren, wie es z.B. Bergsteiger oder Kletterer tun, in dem sie sich in immer steileres Gelände wagen. Durch Übung gewinnen sie Sicherheit und die Angst wird weniger. Kletterer berichten, dass die Angst nach einer längeren Pause wieder mehr wird, dann aber durch regelmäßiges Klettern wieder abnimmt. Für die psychologische Behandlung heißt das: Höhenangst ist nicht ganz wegtherapierbar. Ein bestimmtes Maß wird immer bleiben. Das ist auch wichtig. Sie bewahrt uns davor, dass wir uns nicht einem unnötigen Risiko in steilem Gelände aussetzten.

Das ist dem Patienten verständlich und wir vereinbaren eine Behandlung für die nächste Stunde. Ich vereinbare lieber einen Behandlungsversuch, speziell wenn ich mir nicht sicher bin, ob die Behandlung erfolgreich sein wird. Der Patient hatte den Infarkt so weit gut verarbeitet. Er konnte daran denken, ohne dass er eine Belastung verspürte. Den Infarkt selber in den Fokus einer Traumabehandlung zu nehmen, erschien mir wenig erfolgversprechend. Vielleicht würde sich aber etwas bewegen, wenn wir die übersteigerte Höhenangst fokussieren.

Zuerst brauchte es eine praktische Situation, um die Angst auszulösen. Für die Behandlung ist es nicht notwendig, sich in die Situation zu begeben, es reicht sich dies vorzustellen. Der Patient kannte ein Lokal, das sich im 30. Stock eines Hochhauses befand. Der besondere Reiz bestand darin, dass die Verglasung der Außenwand von der Decke bis zum Boden reichte. Das Spiel mit der Angst hat ja auch etwas Lustvolles. Man kann sich in dem Lokal seiner Höhenangst aussetzen und ist dabei gleichzeitig völlig sicher.

Schon in der Vorstellung gelang es dem Patienten nicht, sich näher als drei Meter an die Glasfront zu wagen. Er war wie blockiert. Er hatte Angst, sollte er sich weiter vorwagen, würde die Glasfront einbrechen und er hinunterstürzen. Bei drei Meter Abstand wäre er da noch sicher. Sollte er hinfallen, würde er trotzdem noch vor dem Abgrund zu liegen kommen. So ein Ereignis wäre extrem unwahrscheinlich. Warum hatte der Patient Angst vor etwas was in seinem Leben wahrscheinlich nie passieren wird? Und wie hängt das mit dem Infarkt zusammen?

Wir leben in der Vorstellung, unser Leben in der Hand zu haben. Wir leben auch in der Vorstellung, dass es immer weiter bergauf geht. Kindergarten, Schule, Beruf, Partnerschaft, Familie, Gehaltserhöhung, Beförderung, ...  Ich nehme an, dass wir auch das geerbt haben. Man könnte von einer Kontroll- und Wachstumsillusion sprechen.

Haben wir die Kontrolle über unser Leben? Wir haben nicht einmal Kontrolle über das Weckerl, das wir zum Frühstück essen. Wer weiß schon, was da alles drin ist? Aber vielleicht sollten wir eher von Vertrauen sprechen. Wir kontrollieren das Brötchen nicht, sondern wir vertrauen darauf, dass der Bäcker ein gutes Weckerl für uns gebacken hat. Nach dem das letzte Woche so war, und auch die Wochen davor, wird es heute auch wieder so sein. Findet jemand aber eine eingebackene Maus, so ist das ein Schock und zerstört diese Annahme. Mit der Gesundheit ist es ähnlich. Wir waren gestern gesund, vorgestern, das Jahr zuvor und das Jahr vorher auch, abgesehen von einer kleinen Grippe. Also werden wir morgen auch gesund sein. Dieses Vertrauen wird durch einen Herzinfarkt wie durch einen Keulenschlag erschüttert. Gestern war noch alles in Ordnung und heute wäre ich fast gestorben. Dieses Ereignis konfrontiert uns mit der Fragilität unseres Lebens. Wir werden damit konfrontiert, dass wir bei weitem nicht so robust sind als wie wir angenommen haben. Plötzlich werden wir damit konfrontiert, dass bei fast 100 000 km, ausgesprochen hunderttausend Kilometern Gefäßen in unserem Körper es eher ein Wunder ist, das so wenig schief geht. Das ist ein Erdbeben. Der sichere Boden ist nicht mehr sicher. Mit dieser neuen "Erfahrung" muss man lernen zu leben. Die Möglichkeit von Krankheit und Tod sind plötzlich sehr nahe und müssen in das bisherige Bild von sich und der Welt integriert werden. Auch wenn sich jemand die heile Welt von vor dem Infarkt zurück wünscht, ein Zurück gibt es nicht mehr. Integrieren heißt im Endeffekt zu akzeptieren, dass auch mich Krankheit und Tod treffen werden. Objektiv betrachtet ist es nur eine Frage der Zeit. Sagt jemand, ich habe Angst, dass wieder etwas passieren könnte, so sage ich: "Es wird ganz sicher wieder etwas passieren, sie wissen nur nicht wann. Es kann morgen sein oder erst in 20 Jahren." Das gehört zu unserer Existenz. Wir sind sterbliche Wesen. Das müssen wir lernen zu akzeptieren. Das haben wir leider nicht geerbt.

Meine Annahme war also, dass diese Angst vor dem Unkontrollierbaren sich bei dem Patienten in der übersteigerten Höhenangst ausdrückte. Ich habe keine Ahnung warum. Meine weitere Annahme war, wenn der Patient lernt, das Unkontrollierbare in seinem Leben zu akzeptieren, würde auch die Höhenangst weniger werden.

 

Die zweite Stunde begann ich damit, mit dem Patienten ein paar meiner Vorstellungen zu Schicksal, Krankheit und Tod zu diskutieren. Dann bat ich den Patienten, sich die Situation in dem Lokal im 30. Stock vorzustellen, zu betrachten, sich selbst zu betrachten und gleichzeitig auf seinen Brustkorb zu klopfen. Das gelang ihm gleich gut. Ich konnte in seinem Gesicht sehen, wie das innere Bild auf ihn wirkte. Nach der ersten Sequenz, die vielleicht eine Minute dauerte, fragte ich ihn, wie es denn sei und er antwortete: "Ich stehe drei Meter von der Fensterfront entfernt. Ich weiß dass ich hier sicher bin, trotzdem bin ich wie blockiert. Ich kann keinen Schritt weiter vor gehen. Ich ließ ihn noch einmal die Situation erleben. Nach dem keine Veränderung eintrat, sah ich einen Versuch gerechtfertigt. Während er die Szene beobachtete und auf seinen Brustkorb klopfte, ließ ich ihn folgenden Satz laut wiederholen: "Ich lebe so lange ich darf."

Diesen Satz hörte ich zum erste Mal auf einem Seminar der systemische Familientherapie. Der Therapeut war Bert Hellinger. Eine umstrittene Figur, aber im Umgang mit dem Unausweichlichen fand ich den Satz genial. Es hat keinen Sinn vor dem Unausweichlichen Angst zu haben. Die Angst schützt uns nicht, im Gegenteil. Die Angst bedeutet nur eine zusätzliche Belastung, Stress der ein weiteres Herzereignis eher beschleunigt. Der einzige vernünftige Umgang damit ist, es zu akzeptieren.

Nachdem der Patient den Satz ein zweites Mal wiederholt hatte, fragte ich ihn wie der Satz für ihn sei. "Ja, er macht Sinn", war seine Antwort. Ich jubelte innerlich. Meine Annahme könnte funktionieren. Ich bat ihn weiter bei der Szene zu bleiben und den Satz zu wiederholen. In der nächsten Pause fragte ich wieder: "Wie ist es nun?" Er: "Es hat sich was verändert.  Es gingen mir viele Gedanken durch den Kopf, auch andere Erinnerungen tauchten auf. Der Satz macht da auch Sinn." Hier fragte ich nicht weiter, es war spürbar, dass er mich nicht in alles miteinbeziehen wollte.  "Außerdem fühle ich mich leichter ", meinte er noch.

Ein kreativer Prozess ist in Gang gekommen. Informationen wurden neu geordnet und mit neuen Bedeutungen versehen. Es ist Bewegung in die Sache gekommen, die der Patient auch körperlich wahrnahm. Ich bat ihn einfach, weiter dabei zu bleiben und den Prozess zu beobachten. Klopfen und Beobachten. Dabei wiederholte er selber den Satz. Die Entspannung war sichtbar und spürbar.

Wenn die Anspannung im Gegenüber nachlässt, so spüre auch ich, wie ich mich entspanne. Wir Menschen sind soziale Wesen und über unsere Spiegelneuronen spüren wir wie es dem anderen geht.

In der nächsten Pause betonte der Patient noch einmal das gute Gefühl. Ich bat ihn dabei zu bleiben, es zu beobachten und zu klopfen. Ich erwartete keine Veränderung mehr, aber ich wollte ihm und auch mir noch ein bisschen von dem guten Gefühl gönnen. Nun bat ich ihn noch einmal an das Lokal im 30. Stock zu denken. Mit einem entschlossenen Blick berichtete er mir, wie er an die Fensterfront vor geht, ganz nah, und wie er beide Hände auf das Glas legt. Er strahlte. Die Blockade war gelöst.