Infarkt am Todestag des Mannes - Spielsucht

Ein Gespräch beginnt immer mit der Erhebung der Krankengeschichte. Die Patienten sind ja wegen ihrer Herzerkrankungen bei uns. Aber manchmal wiegen andere Themen schwerer.

Die Patientin begann ebenfalls mit einem Bericht über ihren Infarkt, über die wahnsinnigen Schmerzen, die sie hatte und die Bewußtlosigkeit. Von medizinischer Seite ist der Infarkt gut ausgegangen. Es wurde eine Angiographie gemacht und mit Hilfe von 3 Stents wurde das wieder eröffnete Herzkranzgefäß stabilisiert. Kein Herzgewebe ist abgestorben. Keine bleibende Narbe ist am Herzen entstanden.

Was die Patientin am meisten erschütterte, war nicht der Infarkt, sondern dass sie den Infarkt am dritten Todestag ihres Mannes hatte.

Ihr Mann hatte vor seinem Tod schon eine lange schwere Krankheit hinter sich. Er litt an Parkinson und an Leukämie. Die letzten zwei Wochen seines Lebens war er meist ohne Bewußtsein und wog nur noch 35 kg. Er verlor überall Blut. Die Patientin beschrieb ihn als einst stattlichen Mann, der nun auf ein Häuflein Elend reduziert war. Seine Kinder, die Ärzte, die Krankenschwestern, alle warteten auf sein Ende. Nur sie konnte nicht glauben, dass es Zeit war Abschied zu nehmen. Jeden Tag bis tief in die Nacht saß sie an seinem Bett und hielt seine Hand. Sie wollte ihm Kraft geben, wollte dass er lebt, wollte dass ihr gemeinsames Leben weitergeht. Sie befeuchtete seine ausgetrockneten Lippen und den ausgetrockneten Hals. Durch die Leukämie trat durch die Schleimhäute Blut aus. Sie tupfte mit Wattestäbchen das Blut aus den Backentaschen. Sie wusch ihn, sie wickelte ihn, sie war den ganzen Tag bei ihm. Zwei Wochen befand sie sich mit ihm schon im Sterbezimmer, bis der Oberarzt sich ein Herz nahm und mit ihr sprach. „Bitte fahren Sie doch nach Hause. Wenn sie nicht nach Hause fahren, läßt er nie los.“ Die Erfahrung des Arztes war wohl, dass manche Patienten nur alleine sterben können. Sie verstand zwar nicht ganz, was er meinte, aber weil sie schon völlig erschöpft war, folgte sie seinem Rat. Am nächsten Morgen um sechs Uhr war ihr Mann tot, eine Stunde bevor sie wieder in das Krankenhaus kam. Es war ein Schock. Sie konnte nicht glauben, dass es vorbei war. Sie konnte nicht glauben, dass das, was in Verbände gehüllt auf dem Bett lag, ihr Mann war. Dass er gestorben war, ohne dass sie bei ihm war. Negative Gedanken begannen sich einzugraben. „Du warst nicht bei ihm. Du hast in seiner letzten Stunde nicht seine Hand gehalten.

Der Schmerz begann sie aufzufressen. Es gab wenig, was ihr Erleichterung verschaffte. Der Gedanke, dem Leben eine Ende zu setzen, wurde immer stärker. Eine Wanne mit warmem Wasser war schon gefüllt, die Tabletten lagen bereit. Da durchfuhr es sie: „Das kann ich meinen Kindern nicht antun.“ Das hat den Bann gebrochen, doch die Selbstvorwürfe sind geblieben.

Durch einen Besuch im Kasino entdeckte die Patientin, dass Spielen an einem Automaten sie beruhigte. Sie war fasziniert von den sich drehenden Rädern und der Aufregung, vielleicht zu gewinnen. So konnte sie den Tod des Gatten für einige Zeit vergessen. Doch das hatte seinen Preis. Das Trauma war damit ja nicht gelöst, sie spürte es nur nicht. Nach dem Kasino kamen der Schmerz und die Selbstvorwürfe unvermittelt wieder zurück. So spielte sie immer wieder und immer öfter. Anfangs gewann sie, doch bald häuften sich die Verluste. Sie versetzte ihr Auto und nahm sich einen Kredit, um weiter spielen zu können. Nun mußte sie gewinnen! Die anfängliche Beruhigung wich dem Druck gewinnen zu müssen. Einem Druck, den sie glaubte, nur durch Spielen entrinnen zu können. Am Ende gewinnt aber immer die Bank. Sie verlor alles. Das Ersparte, das Auto und fast auch die Wohnung, da sie die Miete nicht mehr zahlen konnte. Da nahm sie dann allen Mut zusammen, vertraute sich ihren Kindern an, die ihr aus der Notlage halfen. Sie begann dann auch eine Therapie gegen Spielsucht.

Das Spielen hat sie betäubt. In diesem Sinne war sie für mich keine Spielerin, sondern jemand, der entdeckt hatte, dass Spielen gegen seelische Schmerzen hilft. Ich hatte schon einmal einen Patienten, der nach dem Tod seiner Mutter zu spielen begann, weil es ihm Erleichterung verschaffte. Ein anderer Patient in einer schweren Krise berichtete mir, dass, wenn sich die Räder drehen, am besten auf zwei oder drei Maschinen gleichzeitig, er dann im siebenten Himmel sei...

Dann kam der Herzinfarkt. Die Patientin hatte schon Tage lang vor dem Todestag ihres Mannes geweint. „Ich war so aufgewühlt, die ganze Zeit“ und am Todestag hat das Herz nicht mehr mitgemacht. Die Patientin hatte Glück. Sie überlebte den Infarkt. Bei uns auf der Rehabilitation hatte sich das Herz gut erholt. Im Echo waren keine Wandbewegungsstörungen mehr zu sehen. Das heißt, kein Herzgewebe ist abgestorben.

In dem, was die Patientin berichtete, gab es vier herausragende Ereignisse:  Der Tod des Mannes, der Selbstmordversuch, die Spielsucht und den Herzinfarkt.

Das Drama begann mit dem Tod des Mannes und für die Patientin war das nach wie vor das Schlimmste. Auf der zehnteiligen Belastungsskala gab sie die Belastung maximal mit SUD=10 (Subjective Unit of Distress) an. Gefühle können sehr komplex sein und man kann einen ganzen Roman damit füllen. Interessanterweise können aber fast alle Menschen angeben, wie sehr sie etwas belastet, wenn man sie bittet, dies auf einer Skala von 0-10 einzuschätzen. 0 bedeutet 'wenn ich heute daran denke macht mir das gar nichts aus'. 10 bedeutet 'es ist der blanke Horror'.

Es ist noch genau so schlimm wie damals. Es ist ein gewisses Wagnis, gleich in der zweiten Stunde mit einem so stark belastenden Thema zu beginnen. In der Ausbildung wurde davon abgeraten, aber der Aufenthalt in der Rehabilitation ist auf 4 Wochen begrenzt und wir waren schon in der zweiten Woche. Auch hatte die Patientin schon drei Jahre mit der Belastung gelebt und der Tod des Gatten war offensichtlich nicht Teil der Therapie wegen Spielsucht. Was sie am meisten belastete, war ein fixer Gedanke: "Ich war nicht bei ihm." Wenn es gelänge, nur diesen Gedanken zu entschärfen, würde der Trauerprozess dann von alleine weiterlaufen? Einen Versuch war es wert! Der Gedanke entstand an dem Morgen, als ihr Mann gestorben war. Sie betrat das Zimmer und er lag  unkenntlich wie eine Mumie im Bett. Es war der Patientin nicht klar, warum er so einbandagiert war. Ihre Frage wurde mit einem eher abweisenden: "Das war notwendig" abgetan. Vielleicht stand es im Zusammenhang mit der Leukämie. Hatte die Erkrankung den Patienten im Tod noch weiter entstellt? Wir sprachen darüber, dass damals allen schon klar war, dass ihr Mann sterben würde. Heute sieht sie das auch so. Es war unausweichlich. Unverständlicher war für sie, dass sie es nicht darüber hinweg schaffte.

Wir beschlossen die EMDR-Behandlung mit dem Moment zu beginnen, als sie das Zimmer betrat und ihren Mann tot liegen sah. Ich bat sie nur diesen Moment zu betrachten und abwechselnd links und rechts auf den Brustkorb zu klopfen. Sie blickte dabei auf einen Punkt im Raum. Gleichzeitig war zu sehen, wie sie nach innen blickte und die inneren Bilder abliefen. Zu meiner Überraschung zeigte sie keinen starken Affekt. Nach den Berichten, wie viel sie früher weinen musste, war ich auf eine heftige Reaktion gefasst. Generell mache ich so nach 30-40 Mal Klopfen eine Pause und frage, was den jetzt gerade sei. Ich glaubte auch eine Veränderung in ihrem Ausdruck bemerkt zu haben. Sie antwortete nicht gleich, blickte mich erstaunt an und sagte: "Es rückt weg."  Ich bat sie, das Bild weiter zu beobachten und wieder abwechselnd links und rechts zu klopfen. Diese Sequenz nennt man ein Set. Nach dem Set fühlte sie sich leichter. Sie sagte, dass sie sich jetzt ruhiger fühle. Nach zwei weiteren Sets stellte sie fest: "Ich hab das Schicksal nicht aufhalten können." Nach einem weiteren hatte sie das Gefühl, dass es im Brustbereich freier wird. Dann begann die Erinnerung selber sich zu verändern. Sie sagte: "Jetzt ist er weggeschwebt". Ich muss gestehen, dass mir in dem Moment die Tränen in die Augen stiegen. Wir machten noch zwei weitere Sets und am Ende hatte sie das Gefühl, als ob sich eine große Last von ihren Schultern gelöst hätte. Als ich sie nun bat, noch einmal an diesen Tag vor drei Jahren zu denken, sagte sie: "Wenn ich daran denke, ist es jetzt anders. Ich denke anders." Sie empfand keine Belastung mehr und war gehobener Stimmung. Dies ist oft zu beobachten, wenn sich eine Belastung löst oder ein Thema zu einem guten Abschluss kommt.

Zum Schluss der Stunde berichtete die Patientin von einer Freundin, die ebenfalls Witwe ist und wie sie sich gegenseitig unterstützen. Auch das ein gutes Zeichen am Ende einer Behandlung. Es tauchen weitere Ressourcen auf oder positive Erinnerungen. Ich beendete diesen Behandlungstermin mit einem guten Eindruck von der Patientin.

Der nächste Termin folgte eine Woche später. Noch bevor die Patientin saß, sagte sie: „Es geht mir wirklich besser!“ Sie konnte an den Tod des Mannes denken ohne nervös, bedrückt oder unruhig zu werden. Jetzt waren Gedanken wie: „Gott sei Dank, er ist erlöst oder dort, wo er jetzt ist, ist er gut aufgehoben,“ im Vordergrund. Die Selbstvorwürfe waren weg. Nun sah die Patientin, wie sie sich aufopfernd um ihn gekümmert hat und dass sie keinen Grund hat, sich etwas vorzuwerfen. „Das von meinem Mann, das habe ich verkraftet“ meinte sie. Nun erschien es mir wichtig, das was in der Zeit danach folgte, zum Thema zu machen. Meine erste Frage: „Wie ist es, wenn Sie an den Selbstmordversuch denken?“ Die Antwort war eindeutig. „Ich bin heute froh, dass ich es nicht gemacht habe. Ich bin froh, dass ich das den Kindern nicht angetan habe. Es war schon genug, dass sie den Vater verloren haben.“ „Belastet Sie noch etwas in dem Zusammenhang?“ fragte ich weiter. „Nein“ war ihre klare Antwort. Offensichtlich war das Thema für die Patientin abgeschlossen und so weit verarbeitet. Auch der Infarkt war für sie nicht mehr belastend. Blieb noch die Spielsucht. Zum Zeitpunkt der Rehabilitation hatte sie das Spielen bereits aufgegeben. Ursache der Spielsucht war ein unverarbeitetes Trauma. Dies war nun gelöst und die Patientin war zuversichtlich, dass sie das Spielen nicht mehr brauchen würde.